Dienstag, 25. Oktober 2022

Der Trojanische Krieg aus einer anderen Perspektive – Rezension zu „Elektra, die hell Leuchtende“ von Jennifer Saint

Werbung/ Rezensionsexemplar

Titel: Elektra, die hell Leuchtende
Reihe: Einzelband
Autorin: Jennifer Saint
Genre: Fiktion (Retelling)
Verlag: List
Preis: € 24,99 Hardcover; € 19,99 ebook
Erschienen am: 19.10.2022
Seitenzahl: 368

Leseempfehlung? Wenn ihr griechische Mythologie, insbesondere die Ilias mögt und stark figurbezogen lest, dann ja
 
 

"Griechische Mythologie feministisch erzählt
Sehnsüchtig wartet Elektra, Prinzessin von Mykene, auf die Rückkehr ihres Vaters Agamemnon. Nur von ihm hat sie Zuneigung erfahren. Seit er in den trojanischen Krieg zog, leidet sie unter ihrer Mutter, Klytaimnestra. Die liebte ihren Mann, bis er für sein Kriegsglück ihre älteste Tochter Iphigenie opferte. Bei seiner Rückkehr bringt Agamemnon als Beute die Priesterin Kassandra mit. Sie kann vorhersehen, welche Tragödie den Mykenern bevorsteht, aber niemand glaubt ihr. Die Schicksale der drei Frauen – Elektra, Klytaimnestra, Kassandra – sind durch die Launen der Götter und die Untaten der Männer unentrinnbar verbunden. Elektra jedoch beginnt, sich aufzulehnen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auf dem Weg zur Selbstbestimmung muss sie die Götter herausfordern. "

"Jennifer Saint begeisterte sich schon als Kind für die griechische Mythologie, und während ihres Studiums der Altphilologie am King's College in London hat sie ihre Liebe zu den antiken Sagen vertieft. Als Englischlehrerin versucht sie die Faszination für Geschichten aller Art und die reiche Erzähltradition seit Homer zu vermitteln. Jeder Erzähler hat die antiken Stoffe für sich neu interpretiert. Jennifer Saint stellt die weibliche Heldin in den Mittelpunkt."

"Es ist still in Mykene, und doch kann ich heute Nacht nicht schlafen."


Das Cover gefällt mir sehr gut! Im Zentrum ist Elektras Profil, das umrandet ist von Efeuranken, beides wie der Titel goldfoliert. Dadurch sieht das Cover sehr hochwertig aus und ist ein Blickfang.
Etwas schade ist, dass der Papierumschlag insgesamt sehr empfindlich ist. Ich bin äußerst vorsichtig damit umgegangen (nehme ihn beim Lesen immer ab), und trotzdem hat er vor allem am unteren aber auch am oberen Rand einige Schäden und sogar Risse davongetragen. Das macht den hochwertigen Eindruck natürlich etwas zunichte.
Auch die Bindung scheint nicht sehr stark zu sein: Obwohl ich meine Bücher immer sehr vorsichtig aufmache, ist dieses nach einmaligem Lesen schon sehr schiefgelesen.
Für den stolzen Preis von 24,99 € kann man mehr Stabilität erwarten, finde ich.
Weshalb der Titel nur Bezug auf eine der drei Protagonistinnen nimmt, obwohl es gleichermaßen aus Klytämnestras und Kassandras Sicht erzählt wird, war mir erst nicht klar, aber im Nachhinein macht es schon Sinn.

Ich habe das Debüt der Autorin „Ich, Ariadne“ nicht gelesen, da ich viele negative Meinungen über ihren Schreibstil gelesen habe. „Elektra“ hat mich dann aufgrund der Thematik um den Trojanischen Krieg trotzdem angesprochen, sodass ich mich sehr darüber gefreut habe, dass ich über vorablesen.de noch meine Punkte dafür einlösen konnte.

Dabei fiel mir der Einstieg erstaunlich leicht! Natürlich ist es hier von Vorteil, wenn man einiges über den Verlauf des Trojanischen Krieges weiß, denn darauf geht die Autorin nicht weiter ein. Es wird zwar immer mal wieder erwähnt, was gerade passiert, aber sie erläutert es nicht weiter, sodass ich mir vorstellen kann, dass jemand, der davon keine Ahnung hat, sehr verwirrt ist. Aber da dieses Buch ohnehin an eine Zielgruppe gerichtet ist, die sich im Zweifel damit auskennt, stellt es den Anspruch auch gar nicht. Ich finde es tatsächlich sogar sehr gut, dass Saint sich zwar auf den Krieg und die einzelnen Eregnisse bezieht, sie aber nicht weiter ausführt, da ansonsten vermutlich Doppelungen entstehen würden, die die Geschichte unnötig in die Länge ziehen.
Auch wenn ich aufgrund meines Lateinunterrichts in der Schule und viele bereits gelesene Retellings der Ilias also von mir behaupten würde, mich einigermaßen mit dem Trojanischen Krieg und der griechischen Mythologie auszukennen, hatte ich anfangs noch ein Brett vor dem Kopf. Umso erstaunlicher ist es, dass die Autorin es trotzdem geschafft hat, dass ich ab der ersten Seite von ihrer Erzählung gefesselt war!

Das liegt vor allem daran, wie unglaublich nahbar und echt ihre drei Protagonistinnen Elektra, Klytämnestra und Kassandra sind. Elektra und Kassandra lernt man dabei noch als kleine Kinder kennen, die im Laufe der Geschichte erwachsen werden, und auch bei Klytämnestra beobachtet man, wie sie ihre Anfängliche Naivität und Zurückhaltung ablegt und zu einer Königin heranwächst.
Bemerkenswert finde ich dabei, dass, obwohl sich alle drei Figuren über die Jahre sehr stark weiterentwickeln, man in keinem Moment das Gefühl hat, dass sie sich zu einer völlig anderen Person entwickeln. All ihre Erfahrungen und ihre Handlungen machen sie zu den Figuren, die sie am Ende des Buches sind, und alleine daran ist bereits erkennbar, dass sich die Autorin hier hervorragend aufs Character Development versteht.

Aber auch beim Lesen merkt man daran, wie sehr einen alle drei Protagonistinnen trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft, ihrer eigenen Erfahrungen und Wahrnehmung der Ereignisse mitreißen, immer wieder, dass „Elektra“ vor allem von seinen Hauptfiguren lebt.
Denn obwohl vor allem Klytämnestra und Elektra nicht gegensätzlicher sein könnten, sie die Geschehnisse völlig unterschiedlich wahrnehmen und jede von sich behauptet, auf der Seite der Gerechtigkeit zu sein, kann man sich unfassbar gut in alle Protagonistinnen hineinversetzen. Man hat natürlich seine eigene Meinung über die Handlungen der Figuren, über Agamemnon und den Trojanischen Krieg, aber trotzdem schafft die Autorin es, dass man mit Kassandra, Elektra und Klytämnestra mitfühlt.

Objektiv betrachtet ist keine von ihnen eine klassische Heldin, keine handelt „richtig“ oder ist „gut“. Aber trotzdem nimmt man ihr Verhalten aus ihrer Perspektive als richtig und logisch war und kann sehr gut nachvollziehen, wieso sie so handeln, wie sie eben handeln.

Ohne allzu viel verraten zu wollen, haben mir dabei besonders die Kontraste, mit denen die Autorin spielt, sehr gut gefallen. So zum Beispiel ist Agamemnon aus Elektras Perspektive der große Held, der es geschafft hat, alle griechischen Heere hinter sich zu vereinen und Helena zu seinem Bruder zurückzuholen. Elektra trifft selbst nicht auf ihren Vater, aber in ihrer Erinnerung hebt sie ihn so sehr auf ein Podest, dass sie ihn regelrecht vergöttert. Klytämnestra demgegenüber vergisst in ihrer Trauer um Iphigenie und ihrem Hass ihrem Mann demgegenüber alles und wird von ihren Rachegelüsten Agamemnon gegenüber praktisch verzehrt. In ihren Augen ist Agamemnon der Feind, ein Monster, das seine eigene Tochter hinrichtet für einen günstigen Wind, um in den Krieg zu ziehen.
Die Ambivalenz der Figuren zieht sich dabei durch das ganze Buch und man weiß gar nicht, wem man jetzt seine Sympathie schenken soll. Natürlich verteufelt man zusammen mit Klytämnestra Agamemnons Handeln, er ist kein guter Mann. Aber man versteht auch die Liebe Elektras für ihren Vater und dass sie die Beweggründe ihrer Mutter nicht nachvollziehen kann und sie für die Böse hält.

Dass von diesen Figuren das gesamte Buch getragen wird und es abgesehen von ihren Gefühlen hier nur wenig Handlung gibt, und die Autorin es trotzdem schafft, den Leser zu fesseln, finde ich sehr stark. Wer ein eher handlungsbezogener Leser ist, wird hier vielleicht enttäuscht, denn viel passiert hier tatsächlich nicht; der Trojanische Krieg ist zwar offensichtlich Thema, aber er steht nicht im Fokus. Wer sich beim Lesen aber stärker auf die Figuren konzentriert, wie ich, der wird von der Tiefgründigkeit und dem Facettenreichtum der Charaktere beeindruckt sein!


„Elektra, die Leuchtende“ hat wenig Handlung, aber die Charakterisierung der drei Protagonistinnen ist dafür umso stärker. Während Kassandra, obwohl auch ihre Kapitel einen sehr mitnehmen, hinter Elektra und Klytämnestra etwas zurücktritt, nehmen Mutter und Tochter hier sehr viel Raum ein. Beeindruckend ist vor allem, wie die Autorin es schafft, zwei so ambivalente, in ihren Überzeugungen so gegensätzliche Figuren wie Klytämnestra und Elektra zu schaffen, in die man sich trotzdem gleichermaßen gut hineinversetzen können. Beide haben auf die Geschehnisse eine völlig unterschiedliche Sicht der Dinge und als Leser hat man selbst natürlich auch seine Meinung. Trotzdem gelingt es Saint, dass man den Schmerz, die Liebe und den Hass aller Figuren gleichermaßen nachempfinden kann.
Wer eher handlungsbezogen liest, wird hier vermutlich enttäuscht werden, aber alle figurbezogenen Leser unter euch haben hiermit sicher Spaß! Vorwissen um den Trojanischen Krieg sollte man hier aber schon mitbringen, da dies vorausgesetzt wird.
4/5 Lesehasen.



Vielen lieben Dank an

(c) List

(c) Vorablesen

für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars! ♥



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